Thema Krieg und Flucht am Volkstrauertag

Thema Krieg und Flucht am Volkstrauertag: Sich an Menschen zu erinnern, die vor vielen Jahrzehnten Opfer von Gewalt geworden sind, ist ein Gedenken aus der Distanz. Menschen sprechen zu hören, die den Krieg am Rande Europas am eigenen Leib miterlebt haben und deshalb nach Deutschland, nach Lahr, geflohen sind, ist etwas, was uns alle akut betrifft und berührt. Drei junge Frauen aus Syrien haben bei der Gedenkfeier zum Volkstrauertag am Sonntag, 17. November 2019, im Lahrer Pflugsaal über Krieg und Flucht berichtet. „So einen emotionalen Gedenktag hatten wir noch nie“, betonte denn auch Stadthistoriker Thorsten Mietzner.

„Die Veranstaltung war mehr als beeindruckend“, sagte Heimfried Furrer, einer der Sprecher des Freundeskreises Flüchtlinge Lahr. Und: „Die Reihenfolge der Vorträge erwies sich als gelungen: Hadeels Powerpoint-Präsentation mit Bildern ihrer Familie und deren Flucht bereitete auf das vor, was dann in Miravs Rede – ohne Bilder und nur mit einer kurzen Filmsequenz mit von Kerzen beleuchteten Gräbern getöteter Kurden – in der nüchternen Schilderung der Brutalität des erlebten Krieges den Zuhörern den Atem nahm. Und Nirov ergänzte das mit dem Bericht über ihre eigenen Erfahrungen und am Ende mit einem politischen Statement zum Verbrechen der Türken an den Kurden. Sie zeigte viele Bilder, die im Hintergrund abliefen, von Menschen auf der Flucht mit Gesichtern voller Angst, Erschöpfung und Verzweiflung. Und sie sang, begleitet von ihrem Mann Mesud auf der Saz, ein Lied über ihre Heimat.

Als sehr einfühlsam und empathisch habe er die Rede des neuen Oberbürgermeisters Markus Ibert empfunden. Furrers Fazit: „Ich hätte mir die Veranstaltung nicht gelungener vorstellen können. Hinterher habe ich von vielen Leuten mitgeteilt bekommen, wie beeindruckend sie das Gehörte fanden.“ Was Hadil, Mirav und Nirov mit ihrem Mann Mesud  in der Feierstunde geboten haben, habe die Teilnehmer sehr bewegt, so hat es auch Günter Endres empfunden, ebenfalls Sprecher des Freundeskreises.
„Es war eine emotionale Feierstunde, die letztlich auch für den Freundeskreis – ungeplant zwar – eine gute Sache war.“


Titelfoto: Bernd Kasper / pixelio.de

Für die Besucherinnen und Besucher war die Gedenkveranstaltung so emotional wie noch nie.


Hadeel Haje Fares: Als der Bruder 2015 starb, entschloss sich die Familie zur Flucht aus Syrien

Hadeel Haje Fares – Foto: Heidi Fößel

„Ich heiße Hadeel Haje Fares und bin 20 Jahre alt. Ich bin Syrerin und stamme aus Damaskus. Derzeit besuche ich die 12. Klasse der Maria-Furtwängler-Schule in Lahr. Heute möchte ich von der Flucht meiner Familie in den Jahren 2012 bis 2015 berichten.

Meine Eltern, meine beiden Geschwister Mouayad und Hadia und ich lebten, arbeiteten und gingen zur Schule in Damaskus. Weil der Krieg näher kam, zog meine Familie in die 100 Kilometer entfernte Stadt Shahba in der Nähe von As-suwaida um. Dort habe ich die 8. bis 10. Klasse absolviert. Meine Schwester Hadia besuchte die Grundschule, mein Bruder konnte wegen einer Behinderung keine Schule besuchen. Als mein Bruder 2015 starb, hat sich die Familie zur Flucht aus Syrien entschlossen.

Der Pkw und die Wohnungseinrichtung wurden verkauft, mit dem Geld wurde die Flucht finanziert. Eine lange und gefahrvolle Busfahrt nach Aleppo und dann nach Afrin an der türkischen Grenze folgte. Die Busfahrt wurde immer wieder durch legale und illegale Straßenkontrollen unterbrochen, jedes Mal mussten für die Weiterfahrt Geldbeträge bezahlt werden. Die Straßenkontrollen wurden von legalen Truppen, von der freien Armee (Rebellen), vom Daisch (IS) und von Kurden gemacht. Die Zahl der Mitreisenden dezimierte sich dauernd aus den verschiedensten, meist nicht nachvollziehbaren Gründen.


„Das Boot war total überladen

und auf halbem Weg ging der Motor aus.“

Hadeel Haje Fares

Endlich in Afrin angekommen, traf man den Schleuser, der den Weg in die Türkei kannte. Für 100 Euro pro Person wurden wir am Abend zur Grenze gebracht, ein bestochener türkischer Grenzer hat nichts gesehen und wir mussten einen Stacheldrahtzaun überwinden. In der Dunkelheit sind wir bis zu einem Auto mit offener Ladefläche gelaufen. Das hat uns in die Nähe einer Bushaltestelle gebracht.

Izmir war unser Ziel. Dort haben wir in einem billigen Hotel übernachtet. Um 4 Uhr in der Nacht wurden wir zu einem Boot gebracht. Mein Vater hat 1100 Euro für die Überfahrt von uns Vier bezahlt. Das Boot war total überladen und auf halbem Weg ging der Motor aus. Die Männer schöpften das eindringende Wasser aus dem Boot. Die Fahrt, die normalerweise in einer Stunde vorbei gewesen wäre, dauerte 4 Stunden.

Zu unserem Glück hat uns ein Boot der griechischen Wasserpolizei aufgenommen. Sie haben uns an den Strand der Insel Lesbos gebracht und Plastikdecken verteilt. Wir konnten unsere Kleider trocknen. Wir kamen in den Ort Mytilini. Wir waren in Europa. In Mytilini wurden wir in ein Flüchtlingslager gebracht. Dort hat man uns registriert und unsere Fingerabdrücke genommen.

Günter Endres, seine Frau Moni und Hadeel – Foto: Heidi Fössel

Am nächsten Tag hat unser Vater Tickets für die Fähre nach Piräus gekauft. Wir haben unsere Flucht zur See mit einem Schiff der „Blue Star Ferries“ fortgesetzt. Die Fähre war voll besetzt, viele Geflüchtete waren die Fahrgäste. Wir waren zwölf Stunden auf dem Schiff, bis wir in Piräus ankamen. Von da ging’s mit dem Bus nach Athen zum Bahnhof. Wir fuhren mit der Bahn zur mazedonischen Grenze. Die Grenze haben wir zusammen mit vielen anderen Geflüchteten zu Fuß überquert.

Auf unserem Fußweg haben uns viele Leute vom Straßenrand aus mit Essen, Trinken und auch mit Kleidung und Decken versorgt. Wir wurden willkommen geheißen. An der serbischen Grenze mussten wir einen Tag lang auf unsere Transitpapiere warten. Einmal eingereist, ging’s zu Fuß weiter. Wir haben am Straßenrand geschlafen, wenn wir nicht mehr weiter konnten.

Auf unserem Weg haben wir und die anderen Geflüchteten alle Dinge , die wir nicht mehr schleppen konnten, weggeworfen. Da lagen überall volle Wasserflaschen, überflüssige Kleidung, weggeworfene Bücher auf dem Weg. Nur die nötigsten Dinge wie unsere Pässe, wichtige Dokumente und Zeugnisse aus der Heimat, haben wir behalten.


„Die Leute in Serbien waren sehr freundlich

und haben uns auf ihre Toilette gelassen.“

Hadeel Haje Fares

Über ein sehr positives Erlebnis will ich noch berichten: Natürlich gibt es auf der Flucht auch das ganz normale Bedürfnis des Toilettenbesuchs. Was macht man aber, wenn es keine Toilette gibt? Meine Schwester Hadia und ich haben einfach an einem Haus gefragt, ob wir die Toilette benutzen dürfen. Die Leute waren sehr freundlich und haben uns außerdem noch mit Essen, Trinken und Schuhwerk versorgt.

Nach einer Chaos-Fahrt mit dem Zug kamen wir in die Nähe der ungarischen Grenze. Polizei und Armee haben uns empfangen und uns zum Bahnhof gebracht. Mit dem Zug sind wir durch Ungarn gefahren und kamen zur Grenze nach Österreich. Zu einem Lager in Wien wurden wir mit Omnibussen gefahren. Dort konnten wir zum ersten Mal nach langer Zeit wieder duschen. Wir schliefen auf Feldbetten und es ging uns besser.

Hilfsorganisationen sorgten für Kleider, Schuhe und Hygieneartikel. Zum ersten Mal gab es WLAN, für alle sehr wichtig, weil so der Kontakt zu den Familien zu Hause oder auf der Flucht hergestellt werden konnte. Die Ladegeräte für die Smartphones waren ständig überlastet.

Gebannt lauschen auch die Ehrengäste den Worten der Geflüchteten. – Foto: Heidi Fössel

Mit dem Bus wurden wir zur deutschen Grenze gefahren. Da warteten wir mit Polizeibegleitung auf Busse, die uns zu einem Lager brachten. Ich meine, es war in der Nähe von Passau. Wir hatten Durst und es gab viele Kisten mit Wasser. Alle haben es versucht, niemand konnte es trinken. Es war Mineralwasser mit Gas, wir kannten es nicht und waren uns sicher, dass man so etwas nicht trinken kann.

Am nächsten Tag haben wir das Lager verlassen und sind nach Garmisch-Partenkirchen zu einer Cousine gefahren. Von dort ging es zu Verwandten nach Villingen-Schwenningen und dann ins Erstaufnahmelager in Meßstetten.

Nach drei Monaten wurde meine Familie mit weiteren 400 Personen in zwei Turnhallen nach Lahr verlegt. In dieser Stadt, die auch unsere Stadt geworden ist, leben wir nun seit fast vier Jahren. Hadia und ich machen unsere Schulausbildung, mein Vater bemüht sich um Arbeit und unsere Mutter kümmert sich um den Haushalt.“



Auch die lokale Presse hat über den Volkstrauertag in Lahr berichtet: Badische Zeitung und Lahrer Zeitung.